Als ich 2010 in Indien war schickte mir eine gute Freundin einen interessanten Link zu der Facebookseite “Zu Fuß nach Indien”. Zu Fuß nach Indien? dachte ich erstaunt und fand nach kurzer Recherche heraus, dass die beiden Brüder Marcel und Marlon Stawinoga sich zu einer außergewöhnlichen Reise auf den Weg gemacht hatten. Ihr Weg führte sie dabei zu Fuß von Gelsenkirchen, welche übrigens die Nachbarstadt meiner Heimat ist, nach Kalkutta Indien. Schon damals wollte ich die beiden anschreiben, mehr von ihrer spannenden Reise und ihren Beweggründen erfahren. Allerdings war ich dann selbst so busy mit meiner Arbeit vor Ort, dass ich es nach einiger Zeit vergaß.
Vier Jahre später schrieb mich Marcel glücklicherweise über Facebook an, da er durch Zufall auf ganzherzig gestoßen war. Mir war sofort klar, dass ich diesmal die Chance ergreifen und ihn zum Gespräch beten muss. Marcel gibt uns einen tiefen Einblick in seine faszinierende Reise und lässt uns teilhaben an der Einzigartigkeit der indischen Kultur, die trotz ihren Ecken und Kanten, eine magnetische Wirkung auf ihn hat. Lesenswert!
Ganzherzig: Was hat dich dazu bewogen diese aufregende Reise – zu Fuß- anzutreten? Und warum wolltest du nach Indien?
Marcel: Ungefesselt, ungebunden, alle gesellschaftlichen Zwänge abgelegt, keine Rechnungen, keine Miete bezahlen müssend, von Stadt zu Stadt und Land zu Land zu ziehen, morgens, wenn Du Dein Zelt abbaust, nicht zu wissen, wo Du abends sein wirst; einfach an einem Ort für einige Zeit zu verweilen, wenn es Dir gefällt, die Momente genießen, bei vollem Bewusstsein und mit ganzem Herzen – diese romantische Vorstellung vom Wandern, von Freiheit, die brachte mich dazu, zu Fuß nach Indien aufzubrechen. Das bekannte Zitat „Der Weg ist das Ziel“, welches Konfuzius zugeschrieben wird, trifft hier wohl zu, auch wenn wir stets ein klares Ziel vor Augen hatten: Unser Ziel war Kalkutta.
Ich war 2006 zum ersten Mal nach Indien gereist, nach Kerala im Süden Indiens. Damals hatte ich keine Ahnung, was mich dort erwartete. Ich denke Indien lässt niemanden, der von Europa aus dort hin reist, kalt oder unberührt – entweder Du liebst es oder Du hasst es. Damals zu erleben, zu spüren, dass es eine Welt gibt, die sich völlig von unserer Welt unterscheidet, faszinierte mich – Indien, eine Welt so voller Mythen, voller Spiritualität. Fortan war Indien für mich wie eine entfernte Geliebte, die ich nicht wieder vergessen konnte, nach deren Verführung mein Geist sich sehnte, wo ich mir geistiges Wachstum erhoffte, während ich hier, in Babylon, wie ich es manchmal nenne, bloß ein Zahnrad einer riesigen Maschinerie sein konnte, die meine körperliche und geistige Energie aufsaugt und letztlich von anderen gemolken wird. Und wie sollte ich inmitten dieser Knechtschaft weiter aufrecht stehen? Ich fürchtete eine Verkümmerung der eigenen Persönlichkeit, spürte innere Leere entstehen und Unzufriedenheit aufkeimen, eine gefühlte tiefe Sinnlosigkeit.
Hattest du Ängste vor oder während deiner Reise?
Nein. Es mag Dinge auf der Reise gegeben haben, die manche als schlimm bezeichnen würden. In Bulgarien wurde ich zum Beispiel einmal mit einer Pistole bedroht, in Varanasi in Indien befanden wir uns in unmittelbarer Nähe einer hochgehenden Bombe. Diese Dinge habe ich weniger intensiv wahrgenommen, sie sind einfach passiert, darüber nachgedacht habe ich erst später. Ich hatte stets Vertrauen in meinen Weg, in mein Schicksal, und bin mir sicher, dass alles so geschieht, wie es geschehen soll.
Du bist die ganze Strecke zusammen mit deinem Bruder Marlon gelaufen. Wie schafft man auf so engem Raum Freiräume für sich?
Ich hätte mir diese Reise nur schwer mit jemand anderem vorstellen können. Es passte einfach zwischen uns. Als ich ihm damals von meiner Idee erzählte – es war am Telefon, denn er befand sich gerade auf dem Jakobsweg in Spanien – da sagte er sofort, dass er dabei ist. Hätte ich ihn nicht gefragt, dann wäre er vermutlich einfach hinterher gelaufen. Wir kamen sehr gut miteinander aus und haben viele anregende und intensive Gespräche geführt, es war eine schöne Zeit. In seinem Inneren ist jeder frei und da sind doch auch die benötigten Freiräume. Das Innere ist wie ein Garten und all das Erlebte, die Eindrücke, die Momente, die guten Gespräche, das Essen – das ist das Wasser in der Gießkanne für den Garten, welches das Gras, die Blumen und alles andere dort zum Wachsen bringt.
Wie sah dein Tagesablauf aus?
In der Regel habe ich morgens das Zelt abgebaut, während Marlon irgendetwas auf unserem Gaskocher zubereitet hat. Meist gab es Reis mit irgendwelchen Hülsenfrüchten, wie zum Beispiel Kichererbsen, und Gemüse, welches wir häufig unterwegs geschenkt bekamen. Dann haben wir uns noch jeweils eine Tasse Kaffee zubereitet, gesprochen, an besonders schönen Zeltplätzen den Blick in der Landschaft verweilen lassen, dann mit Karte und Kompass die Tagesroute geplant. Wir haben meistens in der Nähe von Flüssen, in Griechenland und in der Türkei häufig am Meer, gezeltet, so konnten wir dann auch morgens direkt ein Bad im Wasser nehmen. Dann sind wir irgendwann losgelaufen.
In Dörfern oder Städten haben wir den Proviant aufgestockt; häufig wurden wir zum Essen, auf eine Tasse Tee oder Kaffee eingeladen, dann haben wir mit den Einheimischen gesprochen, ihnen von unserer Reise erzählt. Wir hatten keine Eile.
In Österreich hatten wir versucht uns an ein bestimmtes Tagespensum zu halten – mehr als 30 Kilometer pro Tag, aber das war eher Sport als eine Wanderung in unserem Sinne. Währenddessen fehlte uns der Blick für das uns Umgebende und abends fielen wir erschöpft in die Schlafsäcke. Also hatten wir es nach einer Woche wieder aufgegeben und sind zur gemütlichen Wanderung zurückgekehrt. Am Abend eines Wandertages, vor Einbruch der Dunkelheit, haben wir uns dann nach einem geeigneten Zeltplatz umgesehen und noch einmal gegessen, die Reste von dem was morgens übrig geblieben war.
Was war dein schönstes Erlebnis?
Als schönstes Erlebnis würde ich die Gastfreundschaft der Menschen, die sich wie ein roter Faden durch unsere Reise gezogen hat, beschreiben. In allen Ländern wurden wir mit offenen Armen empfangen, viele Menschen gaben uns Proviant, eine Mahlzeit, einen Schlafplatz oder etwas Geld.
Was gefällt dir an der indischen Kultur am meisten und woran kannst du dich nur schlecht gewöhnen?
Es gefällt mir, dass in Indien diese jahrtausendealte Kultur und all die Traditionen bis heute bewahrt wurden. Hier würden viele dies alles vermutlich als anachronistisch bezeichnen, als nicht in diese moderne Welt passend. Aber ich denke genau dies macht den Reiz für viele Menschen an Indien aus. In Uttarkashi, am Fuße des Himalaya, kehrten wir zweimal in einen Ashram ein. Ein Ashram ist eine Art hinduistisches Kloster oder Meditationszentrum, könnte man vielleicht sagen, gegen eine kleine Spende bekommst Du in einem Ashram ein Zimmer und Essen.
Während meiner Zeit im Kailash-Ashram in Uttarkashi hatte ich einige anregende Gespräche mit dem ansässigen Guru. Er führte mich in die Bibliothek und stellt mir einige Bücher zur Einführung in die hinduistische Philosophie zusammen. Wir waren zweimal in diesem Ashram, da Uttarkashi auf dem Weg nach Gaumukh, einer der Ganges-Quellen, liegt. Nachdem wir von Gaumukh zurückgekehrt waren und von Uttarkashi aus unsere Reise Richtung Kalkutta fortsetzen wollten, da bat mich der Guru zu einem Gespräch und sagte mir, dass wir gerne den ganzen Winter bis zum Frühjahr, kostenlos, im Ashram bleiben könnten, um uns den Büchern zuwenden zu können, sodass wir Zeit zum Nachdenken und Besinnen hätten; unsere Reise Richtung Kalkutta könnten wir auch anschließend fortsetzen. Ich war damals so voller Tatendrang, dass ich unbedingt weiter wollte, außerdem, und da holt einem die Gegenwart ein, hatten wir auch nur ein begrenztes Indien-Visum. Der Guru nahm meine Entscheidung ohne sie zu beurteilen und sagte mir, dass ich jederzeit in den Ashram zurückkommen könnte.
Indien ist ein Land der Gegensätze. Es gibt dieses von mir eben dargestellte Indien, wo ich in einem Ashram verweile und mich den guten Dingen, dem Denken, dem Lesen und dem Schreiben zuwenden kann, ohne mir Sorgen über Geld und Rechnungen machen zu müssen, wo keiner nach meiner Arbeit oder meinem Einkommen fragt, wo ich mit einem Buch an einem Fluss sitze, dem Rauschen des Stroms lausche, unter den neugierigen Blicken von Affen, Pfauen und Kühen; ich besuche morgens und abends den Tempel, werde bei der Puja gesegnet und empfange das Prasad, die gesegnete Speise, betrachte das Göttliche im Murti, dem göttlichen Abbild in einer Statue oder einem Bild, bis ich seine Gegenwart tief in mir und in allen Dingen spüre.
Es gibt aber auch dieses raue, rüpelhafte Indien, wo jeder in Dir nur den wohlhabenden Touristen aus dem Westen sieht, versucht Dir Dein Geld aus der Tasche zu ziehen, unverschämt übertriebene Preise nennt, Du um jede zehn Rupien feilschen musst und jeder Dir das erzählt, was Du hören möchtest, nur um ein Geschäft mit Dir zu machen.
Es ist auch hart in einem Restaurant zu sitzen, zwischen wohlhabenden und wohlgenährten Indern, während Du von oben aus dem Fenster auf einen Jungen blickst, der so dünn ist, dass all seine Knochen sich durch seine Haut abzeichnen, der nur von einigen Lumpen bekleidet ist und in einer Mülltonne nach Essensresten sucht. Ich will nicht sagen daran gewöhnt man sich nicht, denn der Mensch gewöhnt sich wohl an alles, aber es ist zumindest schwer sich daran zu gewöhnen.
Dein indisches Lieblingsgericht?
Spontan würde ich sagen Paper Dosa. Das ist ein perfektes Frühstück für einen guten Start in einen wundervollen Tag. Paper Dosa ist eine Art dünner Pfannkuchen, dieser besteht aus einem Teig aus Reis und Hülsenfrüchten. Der Pfannkuchen wird, ähnlich wie ein Wrap, um Gemüse gerollt. Dazu gibt es Sambar, eine Soße aus Linsen, Tamarinde und Gewürzen und ein Kokos-Chutney.
Als Mittagsessen favorisiere ich aber natürlich ganz klar den Klassiker: Thali. Das heißt Reis mit diversen Currys, also Soßen mit Gemüse-Einlagen, dazu Chapatis und Appalam.
Kulinarisch betrachtet ist Indien aus meiner damals noch vegetarischen, heute veganen Sicht, ein El Dorado. Überall in Indien lassen sich die sogenannten „Pure Vegetarian Restaurants“ finden. Darauf spielt ja auch mein gleichnamiger Food-Blog (www.purevegetarianrestaurant.de) an. Ein Pure Vegetarian Restaurant ist ein Restaurant, in welchem nur vegetarisches Essen, kein Fleisch und in der Regel auch kein Ei serviert wird. Wir waren in Indien in heiligen Städten, wie Rishikesh oder Haridwar, wo Fleisch, Eier und Alkohol in der gesamten Stadt verboten sind.
Ich mag es auch das Essen mit Fingern zu essen, wie es im indischen Kulturraum üblich ist. In Restaurants gibt es meistens Löffel oder Gabeln für die Touristen, aber in einem Ashram kommst Du eh nicht drum herum, mit den Fingern zu speisen. Ich finde mit den Fingern zu essen gibt mir einen anderen Bezug zu meinem Essen. Indem ich das Essen zunächst mit den Fingern anfasse, es dort bereits spüre, seine Wärme, seine Konsistenz, es mit dem Daumen auf meine aneinander gelegten Zeige- und Mittelfinger schiebe und es dann zu meinem Mund führe, ist eine unmittelbare Natürlichkeit zu meiner Nahrung gegeben, die mir eine Gabel oder ein Löffel verwehrt.
Die Menschen um uns herum sind schließlich nur eine Reflexion unserer inneren Einstellung. Wenn man dies begriffen hat, dann kann man seine Umgebung ändern, die Menschen, ihr Verhalten, dem entsprechend interpretieren.
Was war das Wertvollste, dass du für dich auf dieser Reise gelernt hast? Und inwieweit war und ist es dir möglich, das Gelernte in deinen Alltag zu integrieren?
Ich denke, wenn ich offenen Herzens und aufgeschlossen im Geiste reise, dann stehen mir alle Türe offen. Dies habe ich deutlich während der Reise gespürt. Tief im Inneren versuche ich Freundlichkeit, Offenheit und Ehrlichkeit zu erlangen. Die Menschen um uns herum sind schließlich nur eine Reflexion unserer inneren Einstellung. Wenn man dies begriffen hat, dann kann man seine Umgebung ändern, die Menschen, ihr Verhalten, dem entsprechend interpretieren.
Wie war das Zurückkommen in den deutschen Alltag?
In der Ferne fehlte mir schon Deutschland, meine Heimat. Es wäre gelogen, würde ich sagen, dass ich am Ende der Reise nicht zurück nach Deutschland wollte. Oft malte ich mir die Gesichter meiner Familie und Freunde aus. Auch vermisste ich all die Tiere, die mich normalerweise bei meiner Arbeit in den zoologischen Gärten in Gelsenkirchen und Dortmund umgeben, wo ich als Zoolotse (Zooführer) arbeite. Und schließlich war ja auch meine Verlobte, die heute meine Frau ist, in Deutschland.
Doch wieder zurück fühlte sich Deutschland aus der Nähe anders an als aus der Ferne und ich bemerkte, wie romantisiert ich mir doch das, was ich „zu Hause“ nannte, ausgemalt hatte. Es dauerte nicht lange, ehe mich wieder das Fernweh packte. Es fiel mir schwer mich wieder in den deutschen Alltag zu integrieren, bzw. einen deutschen Alltag, wo eben alle Tage nahezu gleich sind, aufzubauen. Glich doch beinahe ein Jahr lang keiner meiner Tage dem anderen, war ich immer in Bewegung und konnte jederzeit einen Ort verlassen, gefiel mir dieser nicht mehr, so fühlte ich mich nun in Deutschland schnell gefangen. Stets dieselben Supermärkte, in welchen ich einkaufe, an der Hochschule und auf der Arbeit sehe ich immer dieselben Menschen.
Ich stehe auf, ich gehe arbeiten und/oder zur Hochschule, ich esse, ich schlafe, tagein, tagaus. So fühlte ich nach meiner Reise und es schien mir so, als würde alles, was ich vor der Reise nur erahnt, nur zart gefühlt hatte, Gründe, warum ich von Deutschland aus nach Indien aufgebrochen war, nach der Reise viel klarer zu sein. Dieser Alltag, all das Streben, die Arbeit, scheint mir ein Streben ohne wahres Ziel zu sein, auf Kosten inneren Stillstands, die eigene Persönlichkeit im Zaum haltend, ein permanentes Angestrengtsein, an dessen Ende aber kein Aussteigen möglich ist. Ich arbeite, um meine laufenden Kosten zu decken, vielleicht kann ich mir eines Tages ein Auto kaufen, vielleicht ein Haus, aber aussteigen werde ich niemals können, während andere, wenige Auserwählte, sich an meiner Arbeit, und der anderer, bereichern. Unter Gedanken wie diesen und mit dem Wissen, dass es auch anders sein könnte, ist es manchmal schwer aufrecht stehen zu bleiben. Häufig habe ich zu wenig Zeit für Mußestunden, zu wenig Zeit zum Nachdenken, zum Besinnen, zum Schreiben. Häufig bin ich abends nach der Arbeit oder der Hochschule erschöpft, ausgesaugt vom Alltag.
Wo geht’s das nächste Mal zu Fuß hin?
Zunächst geht es regelmäßig zu Fuß zur Hochschule, da ich seit 2011 Journalismus und Public Relations an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen studiere. Derzeit bin ich mit meiner Bachelor-Arbeit beschäftigt.
Vor dem Sommersemester war ich in diesem Jahr für einen Monat im Norden Sri Lankas. Ich hoffe, dass ich im kommenden Jahr mir wieder eine kleine Auszeit nehmen kann, so Gott will in Asien, um auch endlich mein Buch über meine Reise zu Fuß nach Indien zu Ende zu schreiben und so mit dieses Kapitel meines Lebens abschließe.
Wer Interesse hat, der soll sich herzlich eingeladen fühlen unsere Reise auf unserer Internetpräsenz (www.zufussnachindien.de), von vielen Bildern begleitet, nachzulesen.
1 Comment
Ju (JuYogi)
2. Februar 2015 at 11:54WOW!
Einfach nur WOW!